Saubere Stadt

Saubere Stadt

2013 ist Marseille Kulturhauptstadt Europas und versucht sich von seiner saubersten Seite
zu zeigen.
Mika Biermann zeigt uns in seinem Roman, der erstmals auf deutsch erscheint, ein ganz
anderes Bild dieser Stadt. Denn in einer Welt, die zunehmend aus Müll besteht, bleibt uns
nichts anderes übrig als den Müll zu lieben.
Während die Sommersonne die Müllhalden und Strände von Marseille erhitzt und
schwülwarmen Gestank auf die Straßen legt, sitzt Madeleine-Marie Rofil im Gerichtssaal,
angeklagt ihren eigenen Ehemann ermordet zu haben. Und während die Zeugen mit allen
Mitteln versuchen, ihre Schuld zu nachzuweisen, kommen noch ganz andere schmutzige
Details ans Tageslicht.
Ein Roman über Mut, Moral und Müll.

Leseprobe

An der genannten Adresse stand eine alte Villa aus Fachwerk mit steilem Dach, möglicherweise von einem heimwehkranken Elsässer um die Jahrhundertwende auf den Hügel von Bompart gebaut. Zwei dem Breitengrad völlig unangemessene Blautannen warfen Schatten auf eine Glasveranda. Zwischen den Steinplatten, die zur Haustür führten, wuchs vergilbtes Unkraut. Ich schellte an der Klingel, die in einen Pfeiler der Gartenpforte eingelassen war. Nichts rührte sich. Ich wollte gerade umkehren, als ein Mann die Eingangstür öffnete. Er war vielleicht Mitte fünfzig, sehr groß, mit dickem Bauch. Er trug ein von Flecken übersätes himmelblaues Held, eine braune Kordhose und Strohsandalen. Noch gewichtiger als sein Körper war sein Kopf, der Kopf eines Seeungeheuers. Um seinen verbeulten Schädel schäumten dünne graue Locken, die in zwei Backenbärten auf den hängenden Backen ausliefen. Sein Mund war unglaublich breit und die Lippen tiefrot. Seine vorstehenden, wimperlosen Augen musterten mich misstrauisch. Seine Stimme war tief und tragend.
- Was wollen Sie?
- Doktor Sclacmout? Ich möchte einen Termin bei Ihnen.
- Ich praktiziere seit Jahren nicht mehr.
- Ich brauche einen Rat.
- Verschwinden Sie!
Er machte sich daran, die Tür zu schließen. Sein Aussehen hatte etwas Vertrauenerweckendes.
- Doktor Sclacmout? Mich erregen Dreck und Scheiße.
Die Tür hielt inne, zögerte einen Augenblick und öffnete sich wieder. Der Mann auf der Schwelle studierte mich mit gerunzelten Augenbrauen.
- Stehen Sie da nicht rum wie angewachsen. Kommen Sie her.
Ich nahm drei Treppenstufen, er drückte sich zur Seite und schob mich in einen Flur mit einem riesigen Spiegel zwischen Kleiderhaken voller Tirolerhüten, Fellmützen, Umhängen und Mänteln. Aus einem Schirmständer ragten Stöcke mit geschnitzten Knäufen.
- Hier rechts!
Das Zimmer lag im Halbdunkel. Bücherregale bedeckten drei Wände bis zur Decke. Ein altmodischer Schreibtisch stand in der Mitte. In den Ecken des Raumes hingen Schleier aus Spinnweben.
Statt die gezogenen Vorhänge zu öffnen, schaltete Sclacmout das Deckenlicht ein, in dem die Hälfte der Birnen durchgebrannt waren. Vor den Buchrücken lagen allerlei Objekte: Eine Gipsbüste von Beethoven, längliche Flusskiesel, rosa Schneckenhäuser, das Skelett einer Schlange, ein demontables weibliches Becken aus Plastik, ein kupferner Mörser, eine kaukasische Fellmütze, ein Naturschwamm, Kastagnetten, eine Banderille, ein Krickethandschuh, das Suspensorium eines Eishockeyspielers, ein Kegel, ein Blechwecker, ein Messerbajonett, das Plastikmodell eines Flugzeugträgers. Auf dem Schreibtisch stand die Figur eines Feuerwehrmannes in seiner feuersicheren Weste neben einem Schachbrett und Papieren in staubigen Aktendeckeln voller Kritzeleien. Eine gläserne Salatschale war mit vom Alter geschwärzten Pfirsichkernen gefüllt. Sclacmout setzte sich in einen Lehnstuhl hinter seinem Tisch und verwies mich auf einen Puff aus Kamelleder. Ich saß unbequem und zu niedrig. Er drehte einen Springer aus Ebenholz auf der Schreibtischunterlage.
- Magst du Schach?
- Nein.
Er stellte die Figur auf ein schwarzes Feld des Brettes und nickte, als wäre meine Antwort richtig und erwartet gewesen.
- Ich warne dich. Ich habe meinen Beruf seit ewigen Zeiten nicht praktiziert. Ich habe keinerlei Recht, dich zu behandeln. Irgendwo muss noch ein Diplom herumliegen...
Er streifte die offenen Schubladen seines Schreibtisches mit gelangweiltem Blick.
- Spielt keine große Rolle, nehme ich an. Also, worum geht's bei dieser Schmutzgeschichte?
Ich schluckte.
- Es ist nicht eigentlich Schmutz. Mehr Scheiße. Abfall. Abfall sehen, riechen, berühren erregt mich. Schmutz und Scheiße erregen mich. Sexuell.
Ich hatte es gesagt. Jemandem, den ich erst seit fünf Minuten kannte. Mir klopfte das Herz bis in den Hals. Ich begann zu stottern.
- Was kann ich tun? Ich glaube, ich bin pervers veranlagt!
Der ehemalige Psychologe fläzte sich in seinen Sessel und faltete die schwarznägeligen Finger über seiner Wampe zusammen.
- Nur ruhig.
Eine Pause.
- Die sexuelle Erregung durch den Kontakt mit Unrat nennt man Mysophilie, mit Ypsilon, von griechisch "mysos" Handlung oder Verb abstoßender Art, Verbrechen, Verschmutzung, Unreinheit, und "philos", Freund. Sie ist in der Tat eine der vielen möglichen Perversionen.
Er redete langsam und beobachtet mich dabei.
- Niemand mag perverse Personen. Die Psychiater fürchten sie, weil Medikamente nicht helfen. Die Psychoanalytiker hassen sie, weil die Analyse hier zu nichts führt. Die Psychologen sind hilflos, wenn jemand mit seinen Perversionen leben möchte. Denn die Perversen sind Handelnde, keine Opfer.
- Sie meinen Täter.
- Nicht Täter im kriminellen Sinn, sondern starke Charaktere, triumphierend, fantasiebegabt, nachschwärmerisch, aktiv. Es sind Künstler. Es ist schwierig, mit ihnen Mitleid zu haben. Und es ist selten, dass sie um Hilfe bitten. Warum bist du gekommen?
- Weil ich Angst um meine Ehe habe.
- Hast du mit deinem Mann darüber gesprochen? Natürlich nicht.
- Natürlich nicht. Kann man mich heilen?
Sclacmout lehnte sich noch weiter in seinem Sessel zurück. Sein Kinn lag jetzt auf seiner Brust. Sein übergroßer Mund verzog sich zu einem bösen Lächeln.
- Nicht nötig, sagte er.
- Was?
- Es genügt, sich nicht erwischen zu lassen.
- Wie bitte?
- Wärst du bereit, eine Tasse Tee mit mir zu trinken?

» Mika Biermann, Saubere Stadt | Taschenbuch | 160 s. | 9,99 € | ISBN: 978-3-942920-20-9 | Veröffentlichungsdatum: 01.03.2013
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